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Essay: Der Bushranger-Film: Australiens wichtigstes Filmgenre


Der australische Film hat mehr zu bieten als Crocodile Dundee oder Ein Schweinchen namens Babe. Australien hat viel mehr eine der ältesten Filmgeschichten der Welt. Dass der Bushranger-Film, quasi der australische Western - oder gar Film an sich - par excellence, ein extrem vielseitiges, beliebtes und erfolgreiches Genre ist Down Under, soll dieser folgende Essay aufweisen.


Der Bushranger 

James Joyce schrieb einmal, dass die Zivilisation vermutlich die Erschaffung ihrer Gesetzlosen war.[1] Tatsächlich sind ebenjene Gesetzlose, die Outlaws und Helden, die in allen Formen, Größen, Farben, Glaubensbekenntnissen, Nationalitäten und Geschlechtern[2] in aller Welt zu Volkshelden wurden, bis in die heutige Zeit hinein in allen Ländern und Kulturen rund um den Globus bekannt.


The outlaw hero is a particular and very well-defined type of folk hero who inhabits the grey area between criminality and political or prepolitical protest. His tradition can be traced as a cultural constant that persists over time and through space, and is available to be called into use whenever circumstances are appropriate. Outlaw heroes, real and fictional, exist in most of the world’s folklores, celebrated particularly in song and narrative, as well as through other verbal folkloric genres.[3]

Der australische Bushranger, Daniel „Mad Dog“ Morgan und Ned Kelly zählen hier zu den berühmtesten, ist eine „solitary figure, flanked by a few sympathizers, but representative of a whole oppressed class; the ‚traps‘ are interchangeable, uniformed men in numbers, who die foolish flies in the interests of the state, or survive like grim bull-terriers to become the unshakeable nemesis of the hero.”[4]

Der Begriff des „Bushrangers” hatte sich in Australien schon seit den späten 1790er Jahren etabliert und bezeichnete die aus den Gefängnissen in den australischen Busch entflohenen Sträflinge[5] oder einfach nur Straßenräuber vom Land.[6] Schon sehr früh fanden die Bushranger Sympathisanten unter der Bevölkerung, Balladen und Geschichten über sie wurden verfasst.

The bushranger was, in general, looked upon as a sort of martyr to convictism. [...] It was he who rose against the tyranny of their prison despot and the dread consequences of their criminal law. He was the bold Robin Hood of their morning songs.[7]

Die Bushranger-Filme

Die Bushranger-Filme stellen das vermutlich erste Filmgenre Australiens dar. Zwischen 1906 und 1914 gab es eine Vielzahl an Historienfilmen, die von meist realen Bushrangern[8] und Outlaws handelten.[9] Schon 1904 drehte Joseph Perry mit Bushranging in North Queensland (AUS 1904) einen kurzen Spielfilm über das australische Bushranging, ehe zwei Jahre später The Story of the Kelly Gang die gesetzlose Kelly-Bande romantisierte, dem Outlaw-Image heldenhaften Charakter verpasste und den Autoritäten nur geringen Respekt entgegen brachte.[10] Der Erfolg des Films, dem ersten von bislang acht Kinofilmen über Australiens berühmtesten Bushranger und Outlaw Ned Kelly [11], bildete das Muster des Genres, das bis 1912 gedeihen konnte. Dann machte die australische Regierung den Filmemachern einen Strich durch die (finanziell gut aufgehende) Rechnung und verbot die Bushranger-Filme auf Grund ihres mutmaßlich schädlichen Einflusses auf die (vor allem jüngere) Bevölkerung in den Staaten New South Wales und Victoria – in denen ein Großteil der Australier lebt.[12] Die hohe filmgeschichtliche Signifikanz von The Story of the Kelly Gang wird auch in der Aufnahme in die Liste des Weltdokumentenerbes der UNESCO im Jahr 2007 als frühester narrativer Langfilm deutlich.[13] Zu den in den weiteren Jahren dem erfolgreichen Vorbild von 1906 folgenden 14 Bushranger-Filmen[14] gehörten unter anderem die erste von bislang fünf Verfilmungen von Rolf Boldrewoods Roman Robbery under Arms (AUS 1907), The Life and Adventures of John Vane, the notorious Australian Bushranger (AUS 1910), Thunderbolt (AUS 1910) und Moonlite (AUS 1910) sowie Ben Hall and his Gang (AUS 1911). Auch Dan Morgan (AUS 1911) machte mit seiner offenen Brutalität und Kaltblütigkeit den Behörden eine Entscheidung über ein Aufführverbot (das bis Ende der 1940er Jahre Bestand hatte) einfach.[15] Das hielt viele Filmemacher allerdings nicht davon ab, weiterhin Filme über die berühmten Outlaws zu drehen und so wurden beispielsweise mit The Kelly Gang (AUS 1920) und Robbery under Arms (AUS 1920) weitere Bushranger-Filme produziert.[16]

Da die Aufführung von Bushranger-Filmen vielerorts verboten war, konnte in den 1920er und 1930er Jahren mit den sogenannten Bush-Comedies, beziehungsweise „blackbock farces“, ein anderes, typisch australisches Subgenre florieren.[17] Erst in den 1950er Jahren konnten mit Captain Thunderbolt (AUS 1953), in dem der Bushranger als „working class hero“[18] porträtiert wurde, und der ersten Tonfilmfassung von Robbery under Arms (Die Farm der Verfluchten, UK/AUS 1957) Bushranger-Filme wieder größere Erfolge feiern. 1970 erschien Tony Richardsons Version von Ned Kelly mit Mick Jagger in der Titelrolle, vier Jahre später folgte Philippe Moras Mad Dog Morgan. The Chant of Jimmie Blacksmith (Die Ballade von Jimmie Blacksmith, AUS 1978) und Red Hill (AUS 2010) zeigen wiederum, dass nicht nur weiße Siedler und Immigrantensöhne, sondern auch Aborigines Bushranger sein können.[19] Die indigenen Einwohner Australiens spielen zudem seit den 1970er Jahren eine wichtigere Rolle im australischen Kino und werden seit dieser Zeit markanter und zentraler integriert: In Mad Dog Morgan steht dem titelgebenden Outlaw ein Aborigine treu zur Seite, in John Hillcoats The Proposition sind gleich zwei Aborigines in wichtigen Rollen zu sehen.[20] Leider ist kein einziger Bushranger-Film aus den ersten 20 Jahren des frühen australischen Kinos vollständig erhalten geblieben, weswegen oft nur Spekulationen und Mutmaßungen möglich sind und ein exaktes Bild der frühen Bushranger-Filme nicht exakt rekonstruierbar ist.[21]


Weitere Formen des australischen Westerns

Neben dem nun schon besprochenen Bushranger-Film brachte der australische Film noch andere Subgenres des Western hervor. Die wichtigsten sollen hier kurz angeführt werden.


||| Der Meat Pie Western

Die den amerikanischen Western ähnelnden Filme, die im australischen Outback angesiedelt sind, werden als Meat Pie Western bezeichnet. Der Begriff dient dabei der Differenzierung eben jener amerikanisierter Western aus Australien von den eher auf historischen Grundlagen basierenden Filmen wie den Bushranger-Filmen.[22] Zu diesen Meat Pie Western zählen unter anderem Rangle River (AUS 1936), Captain Fury (Australien in Flammen, USA 1939), The Kangaroo Kid (AUS/UK 1950), Raw Deal (AUS/USA 1977), The Man from Snowy River (Snowy River, AUS 1982), Quigley Down Under (Quigley der Australier, AUS/USA 1990) oder Australia (AUS/USA/UK 2008). Der Begriff Meat Pie Westerns ist dabei eine kulinarische Anlehnung an die italienischen Spagetti-Western, an die auch die Sauerkraut-Western (Karl May-Verfilmungen) aus Deutschland, die Zapata-Western (politische Spagetti-Western wie La Resa dei Conti (Der Gehetzte der Sierra Madre, ES/IT 1966), die in Mexiko angesiedelt sind) oder die französischen Camembert-Western (wie Dynamite Jack (Dynamit Jack (F/IT 1961)) angelehnt sind.[23]Tom O’Reagan nennt die Meat Pie Western auch Kangaroo-Western und sieht The Man from Snowy River als deren Paradebeispiel, da er unterhaltsam, kommerziell und im Stile Hollywoods produziert wurde und sich damit klar von den Bushranger-Filmen abgrenzt.[24]


||| Die Drover-Filme

Auch die Western, die vor allem von Viehtrieben handeln und deswegen als Drover-Filme bezeichnet werden, stellen eine Untergruppe des australischen Westerns dar. So zählen unter anderem The Overlanders (Das große Treiben, AUS/UK 1946) und The Sundowners (Der endlose Horizont, UK/AUS/UK 1960), aber auch die schon genannten The Man from Snowy River und Australia in diese Kategorie.


||| Genre-Mixturen

Filme, die Westernelemente nutzen, aber vordergründig einem anderen Genre angehören, sind beispielsweise Mad Max 2 (Mad Max 2 – Der Vollstrecker, AUS 1982), der das Format eines Westerns voll und ganz adoptiert[25], Red Hill, der einem Bushranger-Film ähnelt, aber im modernen Australien angesiedelt ist, und die Abenteuerkomödie Crocodile Dundee (Crocodile Dundee – Ein Krokodil zum Küssen, AUS 1986), die ebenfalls einige Westernmerkmale aufweist.


Die Bushranger-Filme Mad Dog Morgan und The Proposition

Anhand von Philippe Moras Mad Dog Morgan und John Hillcoats The Proposition sollen im Folgenden zwei Filme analysiert werden, die zu den wichtigsten Vertretern des Bushranger-Films gehören. Der Fokus wird dabei auf Moras Film liegen, von dem aus schließlich Bezüge zu Hillcoats Werk hergestellt werden sollen.

Als Philippe Mora 1976 Mad Dog Morgan veröffentlichte, war das Genre des Bushranger-Films schon 70 Jahre alt. Heute, noch einmal gut 40 Jahre später, zählt Moras Film nicht zuletzt dank Dennis Hoppers Darstellung des Outlaws zu den besten Filmen seiner Art.[26] Der Film, in dem der Amerikaner Hopper einen der berühmtesten Bushranger Australiens als Opfer des Staates, Rächer der Armen und Freund der Aborigines portraitiert, ist ein brutaler Outback-Western, der Morgan als eine Art Jesse James von New South Wales etabliert.[27] Was den Film vor allem von anderen Bushranger-Filmen bis zu dieser Zeit unterscheidet, ist die explizite Brutalität, die in den Vordergrund gestellt wird. Morgan wird zwar als von der Gesellschaft zu Unrecht bestrafter Held – und nicht als Bösewicht – dargestellt und erntet bei der Bevölkerung auch immer wieder Sympathien, dennoch ist es für das Publikum schwer, sich mit dieser extremen Figur zu identifizieren.[28]


Like Jimmie Blacksmith, the eponymous hero of Philippe Mora’s Mad Dog Morgan finds no place in society and takes revenge on it, as a bushranger. After serving twelve years’ hard labour for stealing a man’s clothes, Morgan joins forces with an Aboriginal, Billy, and learns to use the empty, threatening landscape to his own purposes.[29]

Daniel Morgan, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, wird schon in den ersten Filmminuten als Außenseiter dargestellt: Als ein weißer Siedler einem Chinesen einen Stein an den Hinterkopf wirft, schlägt Morgan ihn zu Boden und geht daraufhin ins Lager der Chinesen um sich dort eine Opiumpfeife zu gönnen – schließlich kann man sie bei den Asiaten viel besser amüsieren. Sein weißer Begleiter steht der Sache skeptisch gegenüber und sollte Recht behalten. Am selben Abend überfallen die Siedler das Lager, setzen es in Brand und töten neben Morgans Begleiter auch sämtliche Chinesen und Prostituierten. Schon in den ersten Minuten werden die Weißen als brutale Sadisten gezeigt. Mora setzt auch von Anfang an auf Schockelemente, denn beim Überfall der Siedler sieht man schon beim ersten Schuss platzende Gedärme, literweise Blut und zum Schluss gar den durchlöcherten Kopf eines Mannes in Großaufnahme. Die Kamera hält schonungslos drauf – und zwar in Nahen oder gar Großaufnahmen, es bleibt keine Zeit für Distanz, man ist mitten drin in diesem grotesken Massaker. The Proposition ist nicht weniger zimperlich was die Darstellung von Gewalt betrifft. Auch hier gibt es zerplatzende Köpfe und Unmengen Blut. John Hillcoat geht allerdings manchmal auch etwas subtiler vor und setzt zuweilen auf Symbole und Metaphern. So ist es die Einstellung von Captain Stanley, der in seinem Bett liegt während das blutrote Sonnenlicht sein Zimmer überflutet, Vorbote der blutigen Ereignisse, die schon bald folgen werden. Nach dem Massaker springt die Handlung von Mad Dog Morgan zunächst einmal schrittweise voran: Man sieht Morgan drei Männer überfallen, stiehlt ihnen jedoch nur Kleidung und kein Geld, lässt ihnen auch Decken zurück, damit sie nicht erfrieren und ihre Familien wieder sehen können. Diese Gnade und Menschlichkeit ist sein Markenzeichen zu Beginn und macht ihn gar zu einer Art Gentleman-Gauner. Ein Schnitt auf zwei wohlhabende Männer, die im Busch Vögel beobachten, folgt der Szene und es wird klar, dass einer der beiden Männer Richter ist, der vor allem deswegen so viele Menschen verurteilt, weil Geld für neue Straßen benötigt wird. Auch hier wird ohne Umwege direkte Kritik an den Behörden und raffsüchtigen Einwanderern geübt. In der nächsten Szene steht Morgan plötzlich vor Gericht und wird zu zwölf Jahren Arbeitslager verurteilt – für den Kleiderdiebstahl. Auf der Gefängnisinsel, auf die er nun gebracht wird, wird er gefoltert, gebrandmarkt und vergewaltigt. Das Leid des Mannes wird konsequent und gleichzeitig geradezu beiläufig dargestellt. Mora hält sich nicht lange mit ruhigen Einstellungen auf, zügige Schnitte treiben die Handlung voran, lassen den Zuschauer kaum verstehen, was Morgan angetan wird – es muss einfach akzeptiert werden. Als Morgan wegen guter Führung nach der Hälfte seiner abzusitzenden Zeit freigelassen wird, beginnt er ohne zu zögern mit seinem Rachefeldzug. Die Handlung setzt nun allerdings drei Jahre aus (was ein Voice-Over dem Zuschauer mitteilt) und greift dann wieder ins Geschehen ein, als ein mittlerweile vollbärtiger und von den Jahren gezeichneter Morgan ein Pferd stiehlt. Die beiden Männer, die ihn verfolgen, der eine ein Angsthase, der andere ein Großmaul, schießen sofort auf Morgan, der wiederum verletzt aber ohne sich zu wehren davonreitet. Schwer verwundet findet er in dem Aborigine Billy seinen Retter. Immer wieder gibt es Schnittbilder, die weite Landschaften zeigen, bei Tag oder Nacht, im Busch oder auf freier Fläche, oft endlose Panoramen, ohne ein Lebewesen im Bild. Geradezu malerisch komponiert Mora diese Naturbilder, die im extremen Kontrast zur Brutalität der Menschen stehen, die diese Landschaft bewohnen.[30] Sobald Menschen auftauchen, ist die Kamera zumindest in einer Halbtotalen dabei, weite Einstellungen mit Menschen sind eine Seltenheit bei Mora. Selbst die Establishing Shots sind nie total gefilmt, so dass man kaum eine Chance hat, sich zu orientieren. Das ist aber auch nicht unbedingt nötig, da die Landschaften, wie auch Nils Plath schreibt, immerzu eine eigenständige Geschichte erzählen – „eine Geschichte, die den Anspruch erhebt, neben der narrativen Erzählhandlung des Films auch kommentiert, weitergeschrieben und vor allem wahrgenommen zu werden.“[31] In The Proposition ist die Kamera ebenfalls nah am Geschehen dabei, setzt nicht auf eine distanzierte Kamera, um das Spektakel, die Landschaft, zu offenbaren. Die Close-ups, die den Handlungsfluss drosseln und damit Ruhe, Spannung und eine besondere Intimität erzeugen, sind in jedem Fall ungewöhnliche Elemente eines Bushranger-Films.[32] Daniel Morgans Geschichte wird durch die Natur zweifelsohne geprägt und mitbestimmt: Der Lebensraum, der sich um ihn herum öffnet, ist ein wichtiges Element von Mad Dog Morgan, „wobei sich eine auratische Mensch/Natur-Symbiose [entwickelt], die eine Heimat [zeigt], die gleichzeitig Herausforderung und Idylle [ist].“[33] Und tatsächlich ist Morgan nur ein Gast, der sich in diese wilde Natur hineingewagt hat.[34] Doch dank der Hilfe seines ihm treu zur Seite stehenden Freundes Billy, dem Aborigine, an den ihn schon fast etwas mehr als die typisch australische „Mateship“ bindet, lernt er schnell, sich lautlos im Busch fortzubewegen und geradezu eins mit der Natur zu werden. Die Natur dominiert dabei oftmals durch ihre Größe und Macht über den Menschen, sie entwickelt ein Eigenleben und wird zum Protagonisten im Film. Der Mensch hat so nicht nur mehr das Gesetz zum Gegner, sondern auch die eigenen körperlichen Kräfte und das fremde, wilde Land, das deswegen nicht immer einladend dargestellt wird, sondern als harter Gegner des Menschen.[35] Die Landschaftsdarstellung in The Proposition wird auch in Roger Eberts Filmbesprechung hervorgehoben: The setting is the Outback of Australia as I have never seen it before. These spaces don't seem wide open because an oppressive sky glares down at the sullen earth; this world is sun-baked, hostile, unforgiving, and it breeds heartless men. [...] There is the sense that spaces there are too empty to admit human content. There are times in "The Proposition" when you think the characters might abandon their human concerns and simply flee from the land itself.[36] Ein wiederkehrendes filmisches Motiv von Mad Dog Morgan ist die Durchbrechung der vierten Wand und das direkte Ansprechen des Zuschauers. Der Film beginnt schon mit einer solchen Einstellung: Der die Jagd auf Daniel Morgan vorantreibende Detective erzählt dem Zuschauer vor einer Mauer stehend von der Suche und Tötung Morgans, bevor die Haupthandlung einsetzt. Dieser quasi dokumentarische Einstieg ist deswegen auch interessant und sinnvoll, da der Film auf der Geschichte eines realen Bushrangers, eben Daniel Morgan, basiert und sich die Ereignisse so oder so ähnlich ereignet haben könnten. Im Verlauf des Films steht Morgan dann wie Robert De Niro in Taxi Driver(USA 1976) mit zwei Revolvern in der Hand in der Wildnis und wendet sich ebenfalls direkt an den Zuschauer, schreit ihn provokant an, er solle sein Geld hergeben oder müsse mit seinem Leben bezahlen. Nach einer dreiviertel Stunde begeht Morgan schließlich seinen ersten Mord: Auf die Distanz von weit über hundert Metern holt er mit einem einzigen Gewehrschuss einen schnellen Reiter von seinem Pferd. Seine scheinbar übermenschlichen Kräfte bringen dem Outlaw schnell den Ruf, er würde wie ein Geist auftauchen und verschwinden, weswegen ihn die Polizei nicht finden könne. Diese Übersinnlichkeit spiegelt sich auch in der Darstellung der Landschaft wieder: Der Busch wird bei Mad Dog Morgan als „metaphysical space“[37] dargestellt, als mythischer Raum, in dem alte Rituale der Aborigines, vom Schlangenerlegen über das Bumerang-Werfen hin zum Didgeridoo spielen, vollzogen werden. Darin unterscheidet sich der Film beispielsweise von klassischen Meat Pie Western wie The Man from Snowy River, in dem die australische Landschaft nichts Wundersames (mehr) hat, sondern in weiten, bunten Bildern als Postkartenpanorama inszeniert wird, in dem die weißen Australier keine „Europäer“ zu sein scheinen, keine Eindringlinge im Busch.[38] In Mad Dog Morgan wie in The Proposition leben die Figuren in einer Gesellschaft, die mit sich selbst kämpft, Gesetze mit aller Gewalt befolgen will und dabei ihre eigenen Ideologien verletzt. Die Anführer der Polizei werden brutal und sadistisch, die meist unfreiwillig auf der Jagd mitreitenden Männer eher ängstlich und unsicher dargestellt. Sie alle sind kaum besser oder gar zivilisierter als die gejagten Outlaws, die Behandlung der Gefangenen ist barbarisch und die Aborigines sind für sie nichts als störende „schwarze Rebellen“.[39] Nach seinem Tod wird in Mad Dog Morgan noch einmal in aller Deutlichkeit die Unmenschlichkeit und Brutalität der Polizei dargestellt, in dem man erst gestellte Bilder mit der Leiche machen lässt und der Superintendant schließlich anordnet, Morgan den Bart abzunehmen und seinen Hodensack abzuschneiden, da dieser einen guten Tabakbeutel hergeben würde. Schließlich wird gar noch beschlossen, ihn zu enthaupten, um den Kopf nach Melbourne zu schicken und dort mit dem Schädel von Gorillas zu vergleichen, da Morgan mehr Tier als Mann gewesen sein soll.

Morgan dagegen zeigt auch nach dem ersten Mord (einige weitere werden noch folgen) Menschlichkeit und Gnade. Einem bettelarmen Spanier, den er ausrauben will, schenkt er am Ende selber Geld, weil dieser nichts besitzt, einer jungen Frau, die sich ihm in einem kleinen Hotel freiwillig anbietet, kann er nicht in die Augen sehen und flüchtet vollkommen verunsichert und stagnierend hinaus in die Wildnis, da ihn diese Situation sichtlich überfordert hat und er sich im Busch wohler zu fühlen scheint, als in der Gegenwart einer Frau. Als er schließlich kurz vor seinem Tod bei einer reichen Familie eindringt, verfällt er in Trauer und Kummer, erkennt, dass er sein ganzes Leben verpasst hat und ist den Tränen nahe, als die Tochter des Hausherren auf dem Klavier ein melancholisches Stück für ihn spielt. Immer dann, wenn Morgans Emotionen zu Tage kommen, bleibt die Kamera wieder nah bei ihm, fixiert ihn im Bild und lässt keine Ablenkungen zu.

Conclusio: Der Bushranger-Film – Australiens wichtigstes Filmgenre Bill Routt fasst in seinem Essay über die frühen australischen Bushranger-Filme zusammen, dass eben jene Filme die wichtigste Komponente der ersten fünf Jahre der Filmproduktion down under waren.

They set the initial terms for the Australian commercial narrative film trade, and even in some important, if largely contingent, ways may be said to have created that trade. Moreover, the circumstances of early Australian production and of Australian culture in the first decades of this century strongly suggest that, despite their parallels with certain early Westerns, this type of film is likely to have played a key role in Australian film history even in the (unimaginable) absence of the American cinema.[40]

Er geht sogar soweit, zu sagen, dass der Bushranger-Film mit der australischen Filmindustrie und -kultur stärker vernetzt sei, als der US-Western mit der amerikanischen.[41] Bushranger-Filme stellen einen elementaren, unabdingbaren Teil der australischen Kultur dar, sie sind die Geschichte der ersten 100 Jahre der Besiedelung und jedes Kind in Australien kennt Ned Kelly und seine Outlaw-Geschichten. Die Filme über Kelly, Mad Dog Morgan und die anderen Volkshelden sind Geschichten über das Wesen eines Outlaws, eines vom Staat zum Gesetzlosen degradierten Menschen, der alles dafür tun würde, seine Ehre und sein Leben wieder zurück zu bekommen. Es sind oft tiefgründige, brutale und deprimierende Geschichten, die erzählt werden, von Helden, die im scheinbar undurchdringbaren Busch oder der unendlich weiten, leeren Wüste von der unbezwingbaren Sonne gefoltert werden.

Als vor 110 Jahren der erste Film über das Bushranging in Australien veröffentlicht wurde, war dies der Startschuss für ein Subgenre des Westerns, das bis heute vorhanden ist und trotz der jahrelangen Verbote neue Lebenskraft geschöpft und sich in den 70er Jahren wieder rehabilitiert hat. Mit Mad Dog Morgan gelang Philippe Mora ein Paradebeispiel des Bushranger-Films, der seinen legitimen Nachfolger in John Hillcoats The Proposition gefunden hat. Heute werden der australische Busch, das Outback und auch die Aborigines, die es seit Jahrtausenden beleben, in einer ganz anderen Art und Weise im australischen Film dargestellt, als es noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall war. Es ist ein wenig Vergangenheitsbewältigung mit Unterhaltungswert, aber in jedem Fall ein Genre, das aus dem australischen Kino nicht mehr wegzudenken ist und wohl so lange bestehen bleiben wird, bis die Wüste oder der Busch für immer verschwunden sind.

Erstmalig veröffentlicht am 9. Mai 2014. [1] James Joyce in: Quintelli-Neary, Marguerite (2008): The Irish American myth of the frontier west. Dublin (u.a.): Academica Press. Acknowledgment. [2] Vgl. Seal, Graham (1996): The outlaw legend. A cultural tradition in Britain, America and Australia. Cambridge: University Press. S. 1. [3] Ebd., S. 2. [4] Murray, Scott (1980): The new Australian cinema. London: Elm Tree Books. S. 91. [5] Vgl. Seal (1996), S. 119. [6] Vgl. Routt (2001) [7] Seal (1996), S. 120. [8] Der Begriff des Bushrangers wird in Kapitel 5 noch genauer definiert. [9] Vgl. Goldsmith, Ben (2010): Introduction: Australian cinema. In: Ders. (Hrsg.) / Lealand, Geoff (Hrsg.): Directory of world cinema. Australia & New Zealand. Bristol (u.a.): Intellect. S. 10. [10] Vgl. McFarlane, Brian (1988): Australian Cinema. New York: Columbia University Press. S. 6. [11] Laut Bill Routt gibt es acht Ned-Kelly-Filme mit einer Laufzeit von mindestens einer Stunde: The Story of the Kelly Gang, The Kelly Gang (AUS 1920), When the Kellys were out (AUS 1923), When the Kellys rode (AUS 1934), The Glenrowan Affair (AUS 1951), Ned Kelly (Kelly, Der Bandit, AUS 1970), Reckless Kelly (Robin Hood Junior, AUS 1993) und Ned Kelly (Gesetzlos – Die Geschichte des Ned Kelly, AUS/UK/USA/F 2003). Vgl. Routt, Bill (2003b): The Kelly Films.http://www.routt.net/Bill/TheKellyFilms.htm. Abgerufen am 25. Februar 2014. [12] Vgl. Routt, Bill (2006): Die Entstehung des australischen Films. In: Nowell-Smith, Geoffrey (Hrsg.): Geschichte des internationalen Films. Stuttgart (u.a.): Metzler. S.385. [13] Vgl. Goldsmith (2010), S. 11. Nur die Filme der Brüder Lumière, das Filmarchiv des holländischen Filmverleihers Jean Desmet aus der Zeit ab 1910, das Ingmar-Bergman-Archiv sowie The Wizard of Oz (Der Zauberer von Oz, USA 1939) befinden sich in der Film-Rubrik auf der Liste! [14] Vgl. McFarlane (1988), S. 6. [15] Vgl. Gaunson, Stephen (2010): Bushranger. In: Goldsmith, Ben (Hrsg.) / Lealand, Geoff (Hrsg.): Directory of world cinema. Australia & New Zealand. Bristol (u.a.): Intellect. S. 91. [16] Vgl. Moran, Albert / Vieth, Errol (2005): The A to Z of Australian and New Zealand Cinema. Lanham (u.a.): The Scarecrow Press. S. 9. [17] Vgl. Collins, Felicity Jane / Davis, Therese Verdun (2004): Australian Cinema after Mabo. Cambridge: University Press. S. 110. [18] O’Regan, Tom (1996): Australian national cinema. London (u.a.): Routledge. S. 168. [19] Vgl. Gaunson (2010), S. 92. [20] Interessanterweise sind die beiden Aborigines, die in The Chant of Jimmie Blacksmith und Mad Dog Morgan mitwirkten, dieselben beiden, die in The Proposition mitspielen, nämlich David Gulpilil und Tommy Lewis – die beiden erfolgreichsten und bekanntesten indigenen Schauspieler Australiens. [21] Routt, Bill (2003a): Bush Westerns?: The Lost Genre. http://www.routt.net/Bill/BushWesterns.htm. Abgerufen am 25. Februar 2014. [22] Vgl. Reade, Eric (1979): History and heartburn. The sage of Australian film, 1896 – 1978. Rutherford: Fairleigh Dickinson Unversity Press. S. 294. [23] Vgl. Bloom, Peter J. (2001): Beyond the Western frontier: Reappropriations of the „good badman“ in France, the French colonies, and contemporary Algeria. In: Walker, Janet (Hrsg.): Westerns. Films through history. New York: Routledge. S. 197 [24] Vgl. O’Reagan, Tom (1982): The Man from Snowy River and Australian Popular Culture. http://wwwmcc.murdoch.edu.au/ReadingRoom/film/Snowy.html. Abgerufen am 25. Februar 2014. [25] Vgl. Rayner, Jonathan (2000): Contemporary Australian cinema: an introduction. Manchester: University Press. S. 40. [26] Vgl. Routt, Bill (2005): The evening redness in the West. In: The Age. Ausgabe vom 1. Oktober 2005. http://www.theage.com.au/news/film/the-evening-redness-in-the-west/2005/09/29/1127804605041.html. Abgerufen am 25. Februar 2014. Routt spricht bei Mad Dog Morgan sogar vom besten Bushranger-Film, der je gedreht wurde. [27] Vgl. Hardy, Phil (1991): The Western. The Aurum Film Encyclopedia. London: Aurum Press. S. 349. [28] Vgl. Stratton, David (1980): The Last New Wave. The Australian Film Revival. Sydney: Angus & Robertson Publishers. S. 231. [29] McFarlane (1988), S. 77f. [30] Vgl. Hardy (1991), S. 349. [31] Plath, Nils (2005): Landschaft erblicken. In: Giesenfeld, Günter / Koebner, Thomas (Hrsg.): Blicke auf Landschaften (2005). Marburg: Schüren-Presseverlag. S. 5. [32] Vgl. Routt (2005) [33] Grob, Norbert (1993): Der entgrenzte Blick. In: Belach, Helga (Hrsg.) / Jacobsen, Wolfgang (Hrsg.): Cinemascope. Zur Geschichte der Breitwandfilme. Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek und Wissenschaftsverlag Volker Spiess GmbH. S. 72. Norbert Grob bezieht sich hier auf Otto Premingers River of no Return (Fluss ohne Wiederkehr, USA 1954), man kann aber offensichtlich diesen Gedanken gerade auf die Bushranger-Filme sehr gut anwenden. [34] Dass sich Menschen in der australischen Wildnis zurechtfinden müssen, wird oft in Filmen dargestellt: So müssen in Rabbit-Proof Fence (Long Walk Home, AUS 2002) drei Aborigines-Kinder den Heimweg von einem Erziehungslager für Mischlingskinder zurück zu ihren Müttern antreten – zu Fuß durch die schier unbezwingbare Wüste. Von Alice Springs durch die Wüste hin zur Küste des Pazifischen Ozeans muss auch eine Abenteurerin in Tracks (Spuren, AUS 2013) wandern, während in The Adventures of Priscilla - Queen of the Desert (Priscilla – Königin der Wüste, AUS/UK 1994) wiederum drei Transvestiten auf dem Weg durchs Outback nach Alice Springs sind und dort in ihren schrillen Kleidern wie Eindringlinge in einer fremden Welt wirken. [35] vgl. Petzke, Ingo (2007): Rabbit-Proof Fence. In: Mayer, Geoff (Hrsg.) / Beattie, Keith (Hrsg.): The Cinema of Australia and New Zealand. London: Wallflower Press. S. 234. [36] Ebert, Roger (2006): The Proposition. http://www.rogerebert.com/reviews/the-proposition-2006. Abgerufen am 25. Februar 2014. [37] O’Reagan (1982) [38] Ebd. [39] Vgl. Mitchell, Neil: The Proposition. In: Goldsmith, Ben (Hrsg.) / Lealand, Geoff (Hrsg.): Directory of world cinema. Australia & New Zealand. Bristol (u.a.): Intellect. S. 100f. [40] Routt (2001) [41] Vgl. Routt (2001)

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